Beim Fremdsprachenlernen werden zwei Komponenten in den Vordergrund gestellt, nämlich das Verstehen und das Sprechen einer Sprache. Diese Sprachkompetenzen sind zwar abhängig von einander, doch gibt es relevante Unterschiede, die beim Sprachenlernen zu berücksichtigen sind. Bevor wir eine Sprache sprechen, verstehen wir schon sehr viel. Das hat damit zu tun, dass wir in einer bestimmten Situation durch Zeigehandlung und Mimik schon vieles deuten können.
Stell dir vor, du bist in Japan auf einem Markt und möchtest ein Paar Schuhe kaufen. Wie gehst du vor? Ganz einfach: Du zeigst auf die Schuhe, die dir gefallen – der Verkäufer reagiert auf deinen Wunsch und gibt sie dir usw. Ihr versteht einander irgendwie, obwohl du nicht Japanisch sprichst. Dabei lernst du eventuell den japanischen Ausdruck für Schuhe.
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Sprachverstehen der Sprachverwendung vorausgeht. Wir verstehen darum wesentlich komplexere sprachliche Äusserungen, als wir sie selber produzieren können. Wie kommt das?
Sehr vereinfacht dargestellt können wir uns diese Tatsache wie folgt erklären.
Wenn wir uns in einer Sprache äussern wollen, müssen wir folgende Ebenen durchgehen:
- Wir müssen uns zuerst überlegen, was wir für eine Sprechabsicht haben:
- Mit wem sprechen wir? (Kind / Professor / Grossmutter ...)
- In was für einer Situation sprechen wir? (unter Freunden / formell ...)
- Was wollen wir mitteilen? (Frage / Beschwerde / Witz ...)
- Was wollen wir damit bezwecken? (Hilfe / Mitleid erwecken ...)
- Welche Wörter verwenden wir dabei? Registerwahl: (Jugendsprache, Umgangssprache, Höflichkeitsform..)
- Welche Wortformen und welche Satzstruktur eignen sich am besten?
- Wie spreche ich es aus?
Dies machen wir automatisch, ohne gross darüber nachzudenken, wenn wir in unserer Erstsprache sprechen. Wenn wir uns aber in einer Fremdsprache ausdrücken müssen, nehmen wir diese Etappen wahr! Dies benötigt eine grosse Konzentration und Denkleistung. „Wie funktioniert die Höflichkeitsform im Französischen in der Mehrzahl?“ usw.
Beim Verstehen/Zuhören hingegen brauchen wir nicht all diese Etappen durchzudenken, um die Aussage zu verstehen. Wir konzentrieren uns auf die Bedeutungsebene und filtrieren aus dem Kontext wichtige Inhalte heraus!
Darum ist es auch wichtig, dass die Bezugspersonen im Erstspracherwerb und die Lehrperson im Fremdsprachenunterricht sich dem Niveau der Lernenden anpassen: Sie sollten versuchen, die Kinder bzw. Schüler und Schülerinnen nicht zu unterfordern, sondern immer ein bisschen über ihrem aktuellen Sprachniveau zu sein, damit sie dazulernen können.
Übrigens: Diese Tatsache erklärt auch, dass, wenn wir eine Fremdsprache über längere Zeit nicht mehr verwenden, die Sprechkompetenz schneller verloren geht als die Kompetenz des Verstehens.
Friederici, A. (1984): Neuropsychologie der Sprache. Stuttgart, Kohlhammer.